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Schirn KunsthalleRömerberg
60311 Frankfurt am Main
Tel. 069 - 29 98 82 11; Fax 069 - 29 98 82 40
So + Di 11 - 19 Uhr, Mi - Sa 11 - 22 Uhr, Mo geschlossen
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aktuelle Ausstellung / current exhibition
vorausgegangene Ausstellung / previous exhibition
3.10. 1996 - 5.1. 1997
Ferdinand HodlerFreundschaft und Kunstsinn
Nach seinem internationalen Durchbruch auf der Weltausstellung in Paris 1900 und der XIX. Ausstellung der Wiener Secession 1904 eroberte der Schweizer Ferdinand Hodler (1853-1918) Deutschland geradezu im Sturm: 1904 wird er Mitglied der Münchener Sezession und findet Aufnahme in die Jury des Berliner Künstlerbundes. 1905 und 1910 beteiligt er sich an den Ausstellungen der Berliner Sezession; 1906/07 und 1911 werden ihm in Berlin, München, Köln und auch im Frankfurter Kunstverein große Retrospektiven gewidmet. Aus Hannover und Jena erreichen ihn Aufträge für großformatige Wandbilder, die in Repräsentationsräumen des Rathauses bzw. der Universität ihren Platz finden. Das enggeknüpfte Band zwischen Hodler und Deutschland reißt 1914 jäh: Der Künstler unterzeichnet zusammen mit Freunden den "Genfer Protest" gegen die Beschießung der Kathedrale von Reims durch die deutsche Armee und wird damit über Nacht für national eingestellte Deutsche zur persona non grata. Auch in den Zwischenkriegsjahren bleiben Hodlers Bilder deutschen Ausstellungen fern; in den dreißiger Jahren schließlich verfällt er dem Verdikt der Nationalsozialisten. Erst mit dem in den siebziger Jahren wiedererwachenden Interesse an der Kunst des 19. Jahrhunderts gerät auch Ferdinand Hodler erneut ins Blickfeld, bis die große Retrospektive Berlin/Paris/Zürich 1983 ihn endgültig einem breiten Publikum als wichtigen Exponenten der beginnenden Moderne erschließt. Indem wir Hodlers Werke nach 85 Jahren erstmals wieder nach Frankfurt holen, soll eine erneute Möglichkeit zur Begegnung mit seiner bis heute als spröde und schwierig geltenden Kunst gegeben werden. Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen neben den figürlichen Hauptwerken der Reifezeit und zahlreichen Portraits Hodlers Landschaftsbilder, in denen er während der letzten Lebensjahre zu kompromißlosen, in ihrem Schwanken zwischen Konkretion und Abstraktion einzigartigen Bildlösungen gelangt.
Die vom Kunstmuseum Solothurn erarbeitete Ausstellung ist dem Künstler und seinen Sammlern gleichermaßen gewidmet. Erstmals werden hier die reichen Bestände der Solothurner Privatsammlungen mit jenen Werken vereint, die sich im Besitz des Solothurner Kunstmuseums befinden, bzw. als Depositum dort gezeigt werden. Besonders folgenreich war die 1909 einsetzende kennerschaftliche Förderung Hodlers durch die Geschwister Josef Müller, Gertrud Dübi-Müller, Emma Schmidt-Müller und Margrit Kottmann-Müller. Schenkungen, Vermächtnisse und Stiftungen aus allen vier Zweigen der Familie sowie eine bereits 1899 erfolgte Schenkung durch Oscar Miller begründeten die bedeutende Hodler-Sammlung des Solothurner Kunstmuseums. Unsere Ausstellung vereint mit über 90 Werken die Bestände dieser ehemaligen Sammlungen zu einem aussagekräftigen Bild von Hodlers Meisterschaft, in dem sich Sammlungsgeschichte mit Kunstentwicklung glücklich verbindet.
Als Sohn eines Schreiners in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, arbeitete der junge Ferdinand Hodler bei seinem Stiefvater als Dekorationsmaler, bevor er 1867 bei dem Landschafter Ferdinand Sommer-Collier in Thun eine Lehre begann. 1871 nahm er das Studium an der Kunstakademie Genf auf, wo er sich unter der Ägide seines Lehrers Barthelemy Menn eingehend mit Corot, den Malern der Schule von Barbizon und den französischen Impressionisten auseinandersetzte. Entsprechend tragen seine eigenen Bilder zunächst realistisch-impressionistische Züge. In den achtziger Jahren zeichnet sich die Wende hin zu lebensphilosophischen Themen ab, die Hodler in großformatige, statuarische Gestalten übersetzt. In den allegorischen Figurenbildern entfaltet Hodler eine idealisierte Gegenwelt pantheistischer Naturanbetung; sie werden zu Metaphern der ewigen Rätsel um Leben, Liebe und Tod. Kunst ist für Hodler weit mehr als ein anekdotisches oder ästhetisches Genußmittel: die Malerei soll als moralische Instanz, höhere Realität und Kommunikationsmediurn über sich selbst hinauswachsen.
Dem bereits 1874/76 formulierten Credo "Der Maler muß sich daran gewöhnen, die Natur als Fläche zu sehen" bleibt Hodler treu und entwickelt allmählich eine reliefartige Staffelung der Raum und Figurenebenen. Mit dem Buchenwald entsteht 1885 die erste "parallelistische" Komposition; in den neunziger Jahren wird die Reihung gleichartiger Elemente zum durchgehenden Ordnungsprinzip. "Parallelismus nenne ich jede Art von Wiederholung. Sooft ich in der Natur den Reiz der Dinge am stärksten verspüre, ist es immer ein Eindruck von Einheit." Diese Formanalogien findet Hodler überall: im morphologischen Aufbau von Pflanzen und Tieren, in der Masse gleichartiger Individuen ebenso wie im Anblick von Felsbrocken und Berggipfeln. Auch psychische Prozesse und Gedankenstrukturen unterliegen für Hodler dieser Parallelität: "Wir unterscheiden uns voneinander, aber wir gleichen uns mehr". In seinen großen Figurenkompositionen werden schwesterlich verwandte Frauengestalten im Angesicht der Natur zu Trägerinnen machtvoller, gar "heiliger" Gefühlsregungen. Wie auf einem Laufsteg paradieren in Empfindung I ( 1901/02) vier personifizierte Temperamente weiblicher Sinnlichkeit, deren Extremgestalten die walkürenhaft Auftrumpfende an der Spitze und die sehnsuchtsvoll Schmachtende am Ende des Zuges sind. Auch Die Heilige Stunde (1906/07) wird von einer kunstvollen Frauenriege bestimmt, die gemessen eurythmische Ausdrucksgesten vollziehen. Die Liebe (1907-08) schließlich zeigt in einem von links nach rechts zu lesenden Bildstreifen drei Paare, die unmittelbar oder zeichenhaft drei Stadien der Leidenschaft - Begehren, Vereinigung und das gemeinsame Ausruhen - nach dem Liebesakt vergegenwärtigen. Später hat Hodler das einander in zärtlicher Liebkosung zugewandte mittlere Paar aus dem Querformat herausgetrennt; beide Bildteile sind aber in der Ausstellung wieder vereint. Die Reihe der symbolistischen Allegorien findet mit Blick in die Unendlichkeit 1913/14 ihren Abschluß. Sechs weitgehend entpersonalisierte, ins Riesenhafte gesteigerte Frauengestalten erscheinen als Vertreterinnen des Menschengeschlechts, die dem Unendlichen im Wissen um die eigene Zeitlichkeit gegenübertreten, mit der Gebärde reinen Schauens, in Ehrfurcht und Wehmut.
Seine ersten Erfolge erzielte Hodler indes mit Historienbildern. Die Monumentalgemälde sind dazu bestimmt, an einem herausgehobenen Ort - Nationalmuseum, Rathaus, Universität - ein wichtiges Ereignis der nationalen oder lokalen Geschichte und seinen patriotisch-ethischen Gehalt darzustellen. Es sind öffentliche Bilder, die populär wirken und unmittelbar verständlich sein sollten. In der Ausstellung sind verschiedene Wettbewerbsbeiträge und Entwurfsfassungen des Rückzuges der Schweizer in der Schlacht von Marignano zu sehen, eines dreiteiligen Freskos, das Hodler 1899/ 1900 im Waffensaal des neuerrichteten Züricher Landesmuseums anbrachte. Zum Sinnbild des schweizerischen Freiheitswillens und zum nationalen Symbol ist der monumentale Wilhelm Tell (1896/97) geworden, der im Rahmen eines Wettbewerbs um die Außenmosaike des Landesmuseums enstand. Frei von allem erzählerischen oder illustrativen Beiwerk ist Tell die machtvolle Personifikation des selbstbewußten Freiheits und Selbstbehauptungswillens einer Nation; zugleich aber als verhülltes, stark stilisiertes Selbstbildnis des 44jährigen Künstlers persönliches Bekenntnis.
In zahlreichen Selbstbildnissen unterzieht Hodler zwischen 1873 und 1918 sein Spiegelbild einer unerbittlichen Selbstbefragung. Von den tonigen, in altmeisterlicher Manier gemalten Selbstdarstellungen der Frühzeit bis zu den strengen, zumeist frontal gegebenen Bildern der späten Jahre werden mit dem Abschildern der eigenen Physiognomie kontinuierlich die Lebensstationen kommentiert und Alterungsprozesse notiert. Auch der Blick auf das Gegenüber, das Modell, ist vom Ich des Malers nicht zu trennen: "Der Zweck eines Bildnisses besteht darin, das Wesen des Dargestellten in seiner Unbedingtheit wachzurufen. Die Ähnlichkeit muss vollständig und packend sein. Das Bildnis ist aber auch ein Werk, das die Merkmale seines Schöpfers trägt: Ein Bildnis ist keine Photographie; es ist ein Werk individueller Beobachtung", schreibt Hodler 1888. Einige Hodler besonders nahestehende Modelle werden über Jahre hinweg immer wieder portraitiert, so etwa seine wichtigste Förderin und bewunderte Freundin Gertrud Dübi-Müller. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Bildnisse kranker, sterbender und toter Menschen. Seit 1876 wendet sich Hodler dem existentiell aufrüttelnden Thema immer wieder zu; 1909 dokumentiert er in mehreren Bildern Todeskampf und Leichnam seiner langjährigen Lebensgefährtin Augustine Dupin. Die Züge seiner Geliebten Valentine Gode-Darels erforscht Hodler seit dem Beginn ihrer Beziehung 1908 in den verschiedensten Stellungen, Stimmungen und Lichtsituationen. Als Valentine 1914 nach der Geburt der gemeinsamen Tochter schwer an Krebs erkrankt, bannt Hodler den Leidensweg seiner Gefährtin tagebuchartig ins Bild. Bis zum qualvollen Tod Valentines am 25. Januar 1916 enstehen mehr als 100 Zeichnungen und Gemälde - oft mehrere an einem Tag - in denen der allmähliche Verfall schonungslos aufgezeichnet wird. Schließlich liegt der gemarterte Körper leblos auf dem Totenbett. Hodler wendet sich ab und malt den Ausblick über den Genfersee, den letzten Blick Valentines. Die Landschaft wird hier endgültig zur Chiffre psychischer Existenz.
Seit sich Hodler um 1885 vom Pleinairismus seines Lehrers Menn und dem Realismus Courbets abwandte, entstehen Landschaftsbilder mit immer deutlicherer "Physiognomie". Der reale Natur-Ort wird zum Symbol, zum Träger individueller Empfindungen, Sehnsüchte und Ängste. See - Berg - Himmel: mit dieser Triade sind die elementaren Bildgegenstände festgelegt. Steht man zu Beginn des Jahrhunderts zusammen mit dem Maler noch fest auf dem Boden des Betrachterstandpunkts, so sind die Berglandschaften der zehner Jahre wie im Vorbeiflug gesehen, die Übermacht der Natur läßt jedes menschliche Maß vergessen.In den Landschaften der letzten Lebensjahre glätten sich die gewaltigen Bergmassive zur fernen Kulisse jenseits einer weiten Wasserfläche. Die Landschaften lösen sich in lichtdurchwirkte Räume auf, bis sich Hodlers Programm in reinen Seelenlandschaften, den sogenannten "paysages planetaires", erfüllt. Kurz vor seinem Tod 1918 weiß er sich am Ziel: "Auch andere Landschaften als bisher werde ich malen, oder doch die bisherigen anders. Sehen Sie, wie da drüben alles in Linien und Raum aufgeht? Ist Ihnen nicht, als ob Sie am Rand der Erde stünden und frei mit dem All verkehrten? Solches werde ich fortan malen!"
Kuratorin:
Dr. Sabine Schulze
Auskünfte: 069 - 29 98 82 11