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Heidelberger Kunstverein

Hauptstraße 97
69117 Heidelberg
Tel. 06221 - 18 40 86: Fax 06221 - 16 41 62
Di - So 11 - 17 Uhr, Mi 11 - 20 Uhr
hdkv@hdkv.de
www.hdkv.de
aktuelle Ausstellung / current exhibition
vorausgegangene Ausstellung / previous exhibition

Die Ausstellung ist am 3.9.1999 und 17.9.1999 geschlossen.

 

 

25.8. - 12.9.1999


Martin Disler

Die letzten Aquarelle

 

Martin Disler, o.T., 1996

 

Am 27. August 1996 starb der Schweizer Künstler Martin Disler im Alter von 47 Jahren. Mitten in der Arbeit an Aquarellen, für die er sich die Zahl von 999 Blättern vorgenommen hatte, traf ihn in seinem Atelierhaus in der Nähe von La Chaux-de Fonds ein Hirnschlag. Die hinterlassenen 388 Aquarelle sind im Sommer 1996 in Amsterdam und in Les Planchettes/La Chaux-de-Fonds entstanden. Dislers letzte Arbeiten sind ausgesprochen konzentrierte, intime Werke. Sie setzen sich von den älteren, in Format und Gestik viel expansiveren Aquarellen und den sonstigen Werken des Künstlers deutlich ab. Dennoch gelten auch für diese letzten Aquarelle die für das ganze Oeuvre wesentlichen Begriffe des permanenten Flusses und der Reise - einer, wie Disler es einmal formulierte, "Reise ins Innere der Dinge, was abenteuerlich ist, denn das Zentrum der Dinge hat etwas mit einer Fata Morgana zu tun. "

Viele der letzten Aquarelle beziehen sich ausdrücklich auf die beständig mit dem Tod sich beschäftigenden "esoterischen Gedichte " des Portugiesen Fernando Pessoa (1888-1935). Mit dessen Lyrik, ja mit Pessoas Person, hatte sich Martin Disler, während diese Aquarelle entstanden sind, geradezu identifiziert - auf Grund eines tief in sich gespürten existentiellen Wandels. Dies ging über die generelle Beschäftigung mit dem Tod und mit dem sich wandelnden Zusammenhang von Körper und Geist/Seele weit hinaus.

Martin Disler trieb es immer wieder auf die Wanderschaft. Man konnte ihn für einen fast gar fliehenden Nomaden in Städten und Ländern halten, "As lost as Safe". Immer ergriff er die Gunst der wechselnden Situation - immer fand er sich eine Gunst. Disler verehrte den unsteten, aufs Ganze gehenden, mit innerer Freiheit dichtenden, vagabundierenden Rimbaud: den "Strolch". Seine eigene Kunst empfand Disler als eine Reise: "Es ist eine Reise, das Malen und bis man malt"; und als ein Laufen: " Ich bin mir gegenüber ständig in Überholmanöver verwickelt, so und im Sinne von Reparatur." Zugleich fühlte er sich schließlich in Les Planchettes, wo er und seine Frau, die holländische Künstlerin Irene Grundel, 1988 ein Haus mit Ateliers erwarben, wirklich zuhause. Hier war er der Natur, den Tieren, den Menschen, den waltenden Kräften gegenüber in gesteigerter Weise erlebnisfähig. Hier stapelten sich seine Bücher, die er - er nannte es ein "haltloses Prosasaufen" - verschlang, während er malte, zeichnete, aquarellierte, gravierte, plastisch arbeitete, Musik hörte, tanzte, tanzend malte und zeichnend schrieb: Buchtexte, deren Veröffentlichung jeden Lektor zur Verzweiflung treiben können (wer wagt es doch?).

Das Schreiben von Gedichten und Erzählungen, das Dislers erste Passion war und ein fundamentales, von Zeit zu Zeit sich vordrängendes Bedürfnis geblieben ist, wurde in den Monaten vor der Entstehung der letzten Aquarelle übermächtig. "Diesmal bin ich an der Kreuzung angekommen. Seit 4 Wochen schreibe ich ausschliesslich (Buch und Tagebuch) . Ein wahres Glücksgefühl", so schrieb Disler am 19.5.1995, von einem Aufenthalt in Holland berichtend; und er fügte hinzu: Es komme ihm vor, "ich sei aus dem marktorientierten Schreihälse-Tempel der bildenden Kunst geflohen (. . .) Exil in der Literatur? Dies wiederum schreibe ich Dir nur aus Lust zu schreiben, Wörter aneinanderzureihen, kleines Aufwärmtraining bevor ich mich jetzt wieder ins Manuskript versenke. . ." In einem um den 22. Mai 1996 geschriebenen Brief resümierte Disler dann: "Wie Du aus alldem ersiehst, bin ich drauf und dran, die wichtigste und entscheidenste Häutung meines Lebens zu vollziehen, diesmal sieht es verdammt danach aus, dass ich Schriftsteller geworden bin; was mir Jörg Steiner, der Schriftsteller, bestätigte: Wenn Du so weiter schreibst, wird Dich Malerei bald nicht mehr interessieren. Dies allerdings lasse ich z.Z. gerne offen. Die 4. Erzählung ist also in Arbeit, und ich glaube, ich habe nie mehr einen so kreativen Vorfrühling verspürt seit meinen allerersten Wochen als Maler 1969"- als er neunzehnjährig, vom primären Schreiber zum primären Maler wurde.

Seine im Sommer 1996 gemalten 388 Aquarelle - er wußte nicht, daß es seine letzten waren, - nannte Martin Disler in einem Brief den "langen nassen Weg ". Natürlich hatte er schon in früheren Jahren oft aquarelliert. Es gab Phasen, in denen die Aquarellmalerei ganz in den Vordergrund trat. So habe er, wie er in einem Brief berichtete, im Sommer 1985 in Paris "Tag und Nacht aquarelliert": äußerst transparente, bewegte, zarte, großformatige Blätter mit Figuren und Körperfragmenten in sphärischen Räumen (sie trugen ihm den "Bremer Kunstpreis 1985" ein). Zehn Jahre früher, in seinen Aquarellen der Jahre 1973-75, hatte Disler erstmals seine ganz persönliche Sprache gefunden "Sehnsuchtszeichen", wie er das nannte, "Himmelskitzel". Es sind zarte Kleinformate eines Künstlers, der Richard Tuttle verehrte und es sich 1974 nicht nehmen ließ, die Caspar David Friedrich-Ausstellung der Hamburger Kunsthalle eingehend anzuschauen. Heute sehen wir: Der angeblich so wilde Disler begann sein Oeuvre und beschloß es mit ausgesprochen intimen Werken. Riesenformate lagen dazwischen (1977: "Die Unendlichkeit nimmt langsam Formen an").

Im Sommer 1996 begnügte er sich nicht mit einer Vorstellung seiner selbst; er betrachtete sich genau im Spiegel, der ein ungewöhnliches Instrument auf seinem Arbeitstisch war; er benutzte sogar eigens dafür aufgenommene Photographien, um auf einer Reihe großformatiger Aquarellblockblätter (es sind die größten unter seinen letzten Aquarellen) eine bohrende Analyse seiner Physiognomie und offensichtlich auch seines Alterns als einer Wandlung durchzuführen, versehen mit Pessoa-Zitaten wie "GROSSE RÄTSEL HALTEN sich auf an meines Daseins SCHWELLE". Eines dieser realistischen Selbstporträts zeigt Martin Disler im Profil, wie er eine blaue, harte, rechtwinklig geformte Gestalt aus dem Mund hervorstößt. Unten ist das Blatt beschriftet: "wenn ich alt und grau bin werde ich Rauchzeichen ausstoßen die niemand sieht". Die "Rauchzeichen" - Form ähnelt den rechtwinklig montierten Antennen, die Disler auf etwas älteren Werken (Plastiken, Bildern und Zeichnungen) aufragen ließ und die er wiederum auf einigen seiner letzten Aquarelle anbrachte, besetzt von dicht aufgereihten Menschen, die auf diesen Stangen sitzen wie Vögel, die ausharren müssen, sie können nicht fliegen. Diese rechtwinkligen Gestänge wachsen auf einem anderen, frontalen Selbstbildnis, das in einer Monotypie von 1990 einen Vorläufer hat, unmittelbar aus dem Gehirn; auch die Basis des Kopfes besteht aus einem metallisch harten Gitter. Unter dieser Darstellung lesen wir erneut die Anfangszeilen eines Gedichtes von Fernando Pessoa: "In dieser WELT in der wir uns vergessen sind wir nur Schattenbilder".

Auszüge aus dem Katalogtext "Sehen" von Dieter Koepplin. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.

 

 

Eröffnung: Mittwoch, 25. August, 19 Uhr

Begrüßung: Hans Gercke

Einführung: Prof. Dr. Tilman Osterwold

Der Katalog kostet DM 39,-

Mitglieder DM 30,-

 

Führungen:

So, 29.08.,11 Uhr Hans Gercke

So, 05.09. ,11 Uhr durch beide Ausstellungen (Disler und Samboon): Christine Breitschopf

Di, 07.09., 10 Uhr "Der nasse Weg" - ein Angebot für Jugendliche (s.S. 14)

Mi, 08.09.,19 Uhr durch beide Ausstellungen (Disler und Samboon): Christine Breitschopf

So, 1 2.09.,1 1 Uhr (letzterTag der Ausstellung), durch beide Ausstellungen (Disler und Samboon): Christine Breitschopf

Sonderführungen für Gruppen nach Vereinbarung und Voranmeldung, auch außerhalb der Öffnungszeiten

 

Biographie

1949 geboren in Seewen, Schweiz

1969 erstes Atelier mit der Malerin Agnes Barnettler. Hilfspfleger in der Kantonalen Psychiatrischen Klinik, Solothurn

1973 Umzug nach Paris. Erste Ausstellung, Kunstmuseum Olten

1975 Teilnahme an der Pariser Biennale des Jeunes

1980 Kunsthalle, Basel. Veröffentlichung der Texte: Bilder von Maler und Der Zungenkuss

1981 Lernt die Künstlerin Irene Grundel kennen, die er später heiratet

1985 Museum Folkwang, Essen

1986 Museu de Arte Moderna, Sao Paulo

1991 Studio d'arte Cannaviello, Mailand

1995 Kunsthalle in Emden

1996 Musée des Beaux-Arts, La Chaux-de-Fonds

 

 

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